Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Zwischen Wilhelminismus und dem Ruf nach mehr Europa

2005 – 2006 klangen Buchtitel noch so: Why Europe will run the 21st century (Mark Leonard), Europa die Macht von morgen (Martin Hüfner), Europas Wirtschaft wird gewinnen (Donald Kalff). Heute heißen sie Retten wir den Euro! (Christian Felber) oder auch Europa braucht den Euro nicht! (Thilo Sarrazin). Von Europhorie  kaum noch eine Spur.

So kann es nicht wundern, dass alle Vorstellungen, wie es mit der europäischen Integration weitergehen soll, sich als Lösungsvorschläge der Krise um den Euro präsentieren. Es stellt sich die doppelte Frage: Auf welches Europa wollen die Vorstellungen hinaus und was tragen die aus ihnen abgeleiteten Vorschläge zur Lösung der Krise bei.

Wilhelminismus auf bayrisch

Dem bayrischen Finanzminister Söder fällt es nicht schwer, den hässlichen Deutschen zu geben. Er will an Griechenland ein Exempel statuieren, um die anderen Schuldengebeutelten und von hohen Refinanzierungszinsen geplagten Mitgliedern der Währungsunion zur Raison zu bringen. Man muss ihm nicht erst unterstellen, dass er auf ein deutsches Europa hinauswill. Ohne jede Hemmung beansprucht er die Rolle des Rute schwingenden Zuchtmeisters und macht auch das passende Gesicht dazu. Wenn Söder und die CSU in Deutschland auf den Bundesstaaten herumhacken, die schlechter dran sind als Bayern, ist das vergleichsweise harmlos. Wenn Söder im gleichen Ton gegenüber Mitgliedern der Eurozone auftritt, ist es für Deutschland peinlich, für die europäischen Partner jedoch verletzend und empörend.

Man hat Gerhard Schröder gelegentlich wilhelminisches Gehabe vorgeworfen. Zu Auftritten wie die von Söder hat er sich nie hinreißen lassen. Der Platz an der Sonne wird nun auf bayrisch reklamiert.  Großmäulige Drohungen gegenüber Griechenland werden die früher oder später unerlässlichen Verhandlungen mit Griechenland über einen Austritt aus der Währungsunion im Austausch gegen weiteren Schuldenerlass unter Beiziehung der öffentlichen Gläubiger nur erschweren. Sie sollen ja nicht auf Bestrafung Griechenlands zielen, sondern den Spielraum Griechenlands für selbständiges Handeln wiederherstellen.

Den Balkan mit dem Euro retten?

Zugleich redet  Söder mit dem Exempel, das er an Griechenland statuieren will, denen das Wort, die Griechenland nur als schwächstes Glied einer Kette von „Südstaaten“ und nicht als einen alles in allem  einmaligen Fall verstanden wissen wollen. So erweist sich Söder als Anhänger jener Dominotheorie, die alle „Südstaaten“ über einen Leisten schlägt, entweder um Passivität gegenüber Griechenland zu begründen oder gleich alle „Südstaaten“ zusammen aus der Währungsunion hinauszuekeln. Andere wie die CDU-Politiker  Laschet und Kampeter fragen dagegen: „Wollen wir wirklich als Deutsche mit dumpfen Sprüchen das Nato-Mitglied Griechenland aus dem Euro drängen? Wollen wir angesichts des Bürgerkriegs in Syrien, den Instabilitäten in der arabischen Welt, dem wachsenden Einfluss der Türkei, der milliardenschweren Einflussnahme Russlands in Südosteuropa schlicht und tumb behaupten, ein Austritt Griechenlands habe seinen Schrecken verloren?“ (FAZ 14.8.12) So wird der eine Unsinn mit dem anderen bekämpft. Oder soll man wirklich glauben, der Balkan könne nur durch den Euro gerettet werden und Griechenland wäre dort der Brückenkopf der Währungsunion? Das heißt die Nato und vor allem die EU sehr gering schätzen. Eher muss die EU insgesamt und nicht speziell die Eurozone sich darum bemühen, Rechtsstaatlichkeit und liberale Demokratie in Südosteuropa zu fördern und zu festigen, nicht zuletzt auch in Griechenland.

Gerade das Misstrauen in die rechtsstaatlichen und demokratischen Fähigkeiten lässt die beiden CDU-Politiker ja nach „Souveränitätsübertragung“ rufen, ohne die Fiskaldisziplin, eine auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete Wirtschaftspolitik, präventives und stabilitätsorientiertes europäisches Eingreifen europäischer Institutionen, das wirkungsvolle Sanktionen einschließe, nicht zu leisten sei. „Souveränitätsübertragung“ änderte praktisch nichts an der entscheidenden exekutiven Funktion der Staaten. Indem sie die Rolle der Parlamente schwächte, unterhöhlte sie zugleich die Legitimität der staatlichen Exekutiven.

Die politische Union, deren Fehlen angeblich den „Geburtsfehler“ (in der naturalistischen Variante) oder den „Konstruktionsfehler“ (in der  technizistischen Variante) der Währungsunion ausmache, soll durch „Souveränitätsübertragung“ nachgeliefert werden. Wer überträgt und vor allem wem? Offensichtlich gibt der Übertragende nach oben ab, an irgendwelche europäischen Institutionen, die man sich als „Jenseits“ der Mitgliedsstaaten vorstellt. Das läuft auf ein prinzipielles Missverständnis des bisherigen Erfolgs der europäischen Integration hinaus. Er entspringt nicht einer Übertragung von Souveränität, sondern deren Teilung. Dass die Souveränität, auch wenn sie weitgehend mit den anderen Mitgliedstaaten geteilt wird, bei den Mitgliedstaaten bleibt, drückt sich darin aus, dass sie auf allen Entscheidungsebenen der EU präsent bleiben. In demokratischen Staaten heißt ja Souveränität, dass die Macht nicht nur vom Volk ausgeht, sondern auch dort, wo sie repräsentiert wird, nicht irgendwo ins Jenseits entschwindet. Sharing oder pooling of souvereignty wurde von Chris Patten, dem früheren Vizepräsidenten der Europäischen Kommission in die Verfassungsdebatte eingeführt. So richtig angekommen in der Debatte ist sie nicht. Dabei beschreiben die Begriffe  den Erfolgsweg der europäischen Einigung genau. Sie weisen auch den weiteren Weg der Integration. Very british, gewiss, aber von einem Integrationsbefürworter. Souveränitätsübertragung klingt dagegen stark nach einer deutschen Fassung französischer Zentralismusvorstellungen.

Vertiefung egal wie?

„Souveränitätsübertragung“ gilt als Heilmittel der meisten Befürworter einer weiteren „Vertiefung“ der Integration. Ansonsten drohe eine „Renationalisierung“ zum Beispiel der Geld- und Währungspolitik. Die Formulierung von Laschet und Kampeter  findet sich fast wortgleich auch in dem Papier der Professoren Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin, das nach Gabriels Absicht die Europa- und Eurokrisenpolitik der SPD vordenken soll. Auch hier wird eine „Souveränitätsübertragung auf europäische Institutionen“  als unvermeidlich erklärt, um „Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen und zudem ein  stabiles Finanzsystem  zu garantieren.“ 

Den Vorstellungen der „Souveränitätsübertragung“ liegt nicht nur ein Missverständnis der Erfolge der europäischen Integration durch Teilung der Souveränität, sondern auch ein tiefes Misstrauen in die rechtstaatliche und demokratische Qualität der Mitgliedstaaten zugrunde. In der gegenwärtigen Krise kann man ja auch leicht ein demokratisches Defizit ausmachen. Es zeigt sich freilich nicht bei den europäischen Institutionen, sondern in den Mitgliedstaaten. Das Haushaltsrecht liegt bei den nationalen Parlamenten. Sie hätten die galoppierende Staatsverschuldung bemerken und bremsen müssen. Eine wache Bürgergesellschaft hätte Alarm schlagen müssen, statt sich von der Kreditschwemme mittreiben zu lassen. Viel  eher als um „Souveränitätsübertragung“ geht es um Rückgewinnung von Souveränität, das heißt um die erneute Übernahme von demokratischer Verantwortung durch die nationalen Parlamente und die Gesellschaften der Mitgliedstaaten, die sie wählen. Zu dieser Rückgewinnung von Souveränität gehört auch, dass nicht länger mit angesehen wird, wie das Europäische Parlament gegenüber der Währungsunion, die als reine Staatenunion agiert, immer mehr ins politische Abseits gerät. Es ist ja ein wesentlicher Zug der Teilung von Souveränität, dass die Bürger auf europäischer Ebene, immer dann auf das europäische Parlament zählen können, wenn die Regierungen Mehrheitsentscheidungen treffen und einzelne Mitgliedstaaten überstimmt werden. Bei der Währungsunion ist dieser Legitimationsstrang abgeschnitten, weshalb hier der Regierungskonsens Voraussetzung von Entscheidungen bleibt. Praktisch geht das auch zu Lasten der Parlamente der Mitgliedstaaten. In der Krise erweisen sich die Entscheidungen der Währungsunion als Ergebnis der Aushandlungsprozesse unter den Regierungen und der Zentralbankvertreter. 

Vertiefung als Ausbruch aus der EU?

Die europäischen Institutionen wurden durch die Währungsunion geschwächt, weil diese, je mehr sie sich vom Maastrichter Vertrag löste,  immer mehr Eigengewicht und auch Eigenlogik entwickelte. Ihr gegenüber konnte sich allenfalls der Europäische Rat, dann noch ein bisschen die EU-Kommission, aber überhaupt nicht das Europäische Parlament behaupten. Über die Währungsunion lösten sich die Mitgliedstaaten aus dem Gefüge geteilter Souveränität der EU und kehrten unter dem Banner der „Vertiefung“ wieder zur Ausgangsform der Staatenunion zurück. Tatsächlich besteht die EU heute aus einer Staaten- und Bürgerunion von 27 Mitgliedsstaaten und einer Staatenunion von 17 Mitgliedstaaten der Eurozone. Was als Vertiefung der EU wirken sollte, lief in Wirklichkeit auf einen Ausbruch aus der EU als Staaten- und Bürgerunion hinaus. Das war so nicht gedacht, ist aber so passiert. Deshalb sind die Festigung der Eurozone und die Stärkung der EU zwei Paar Schuh. Man sollte sie nicht verwechseln. Mit der Beschwörung einer notwendigen „Souveränitätsübertragung“ wird diese Verwechslung forciert. Während tatsächlich an einer Neuverfassung der Währungsunion herumgebastelt wird, gibt man sich der Illusion hin und nährt sie, man gelange auf diesem Weg zu einer engeren politischen Union aller Mitgliedstaaten, die in Maastricht seinerzeit gescheitert sei. Bei Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin liest sich das so:
„Die Strategie der Vertragsveränderung zielt auf die Gründung eines politisch geeinten, kerneuropäischen Währungsgebietes, das für Beitritte anderer EU-Länder, insbesondere Polens offen steht. Das erfordert klare Verfassungspolitische Vorstellungen von einer supranationalen Demokratie, die ein gemeinsames Regieren erlauben, ohne die Gestalt eines Bundesstaates anzunehmen. Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen europäischen Völker. Die heute fällige Vertiefung der Institutionen könnte sich von der Idee leiten lassen, dass ein demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit der Bürger aus den EWU-Mitgliedstaaten  (Europäische-Währungs-Union-Mitgliedsstaaten, d. Red.) repräsentieren soll, aber jeden Einzelnen in seiner doppelten Eigenschaft als direkt beteiligter Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten Völker andererseits.“

Was hier als „Idee eines demokratischen Kerneuropa“ angepriesen wird, war die Idee des Europäischen Verfassungsvertrages und sie ist es im Lissabonner Vertrag geblieben. Wenn diese Idee nun einerseits die „Vertiefung der  Institutionen“ leiten soll, also doch wohl der vorhandenen Institutionen der EU, und andererseits als „demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit  der Bürger aus den EWU-Mitgliedstaaten repräsentieren soll“, wird als Reform der EU verkauft, was in Wirklichkeit ihre Verdoppelung wäre durch die verkleinerte Ausgabe eines demokratischen Kerneuropa neben der EU. Das Europäische Parlament etwa hätte in diesem Kerneuropa gar keinen Platz.
Die ursprüngliche Idee, die Währungsunion solle im Rahmen der EU und ihrer Verträge schließlich alle EU-Mitglieder an die gemeinsame Währung heranführen, verwandelt sich unter der Hand in die Idee, aus der EWU solle eine vertiefte Union neben der EU über eine Vertragsveränderung durch die EU geschaffen werden. So verdreht sich alles. Die Währungsunion soll auf Kosten der EU gerettet werden, indem sie politisch aufgeblasen wird.

Zurück nach Maastricht oder hinauf ins Jenseits?

Offensichtlich befindet sich die Währungsunion in einer instabilen Zwischenform. Der Vertrag von Maastricht gilt nicht mehr richtig und eine andere rechtliche Form ist noch nicht da. Es wird immer behauptet, es bleibe nur der Weg zurück in eine Renationalisierung der Währungspolitik  oder nach vorn zu einer politischen Union. Aber eine  Rückkehr zum Vertrag von Maastricht, der auf die Teilung der Souveränität unter Wahrung spezifischer Kriterien im Rahmen der EU als Staaten- und Bürgerunion setzte, wäre keine Renationalisierung. Der Versuch über ein als Währungsunion neuverfasstes Kerneuropa zu einer poltischen Union neben der EU zu gelangen, führt dagegen aus der EU als politischem Rahmen heraus, ohne die geringste Gewähr zu bieten, dass mit einem zentralistischeren Gefüge die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Probleme der Währungsunion besser zu lösen sein werden. Es gibt kein Jenseits der gemeinsamen Selbstverpflichtung zur Selbstdisziplin, wie sie der Maastrichter Vertrag und die Bestimmungen über die Währungsunion im Lissabonner Vertrag vorsehen. Man wird um eine Zeit des Durchwurstelns nicht herumkommen, aber man sollte sich verständigen, wohin man sich durchwursteln will.

Manchmal bekommt man den Eindruck, als wollten manche Politiker und politischen Denker im Überschwang der „Vertiefung“ aus dem durch Teilung der Souveränität flexiblen, aber nicht ganz einfachen politischen Gefüge der EU ein neues Europa à la Jugoslawien schaffen. Aus ihm wollte seinerzeit ein kleiner und immer mehr geforderter Nettozahler wie Slowenien so schnell wie möglich heraus. Auf die Idee könnte in der EWU etwa Finnland kommen. Deutschland dagegen muss sich als wirtschaftliches und zahlungskräftiges Schwergewicht vor jeder imperialen Versuchung hüten. Sie kann dreist wie Söder, aber auch sanft professoral und ganz in sich vertieft locken.